City Sadhus 1

Sadhu (Sanskrit साधु IAST sādhu, deutsch ‚Guter oder auch: Heiliger Mann‘) ist im Hinduismus ein Oberbegriff für jene, die sich einem religiösen, teilweise streng asketischen Leben verschrieben haben, besonders bezeichnet es die Mönche der verschiedenen hinduistischen Orden.

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Es gibt in Indien natürlich auch tantrische Sadhus … Shivaiten, Naths, Aghoris und andere, die zwar nicht asketisch aber dafür in einem Sinn tantrisch leben, der mit einem weltlichen Dasein in der indischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren ist.

Zur Tanzwoche Dresden 1996 gab es eine experimentelle Vorstellungsreihe, die den Titel „Eintritt frei“ trug. Die Eröffnung im projekttheater Dresden gestalteten Andro und ich mit der Antinous-Gemeinschaft mit der Tantra-Performance „City Sadhus“. „Eintritt frei“ bedeutete nicht, dass man fürs Zuschauen nichts bezahlen musste. Es bedeutete vielmehr, dass es nichts kostete, hinein zu kommen. Wenn man dann aber das Theater verliess, musste man – entsprechend der Zeit, die man drinnen verbracht hatte – seinen Obolus entrichten. City Sadhus dauerte vier Stunden und es war ein Stück, über das man in Dresden bis zum heutigen Tag spricht. Ich war in Dresden ein angesehener Theaterkünstler und habe in den 90ern mindestens 30 Choreographien auf die Bühnen dieser Stadt gebracht. Und obwohl ich dort schon seit Jahrzehnten nicht mehr inszeniere, sagen die Leute der Künstlerszene noch immer, wenn sie meinen Namen hören: „Das ist doch der, der mit diesem Andro diese Tantra-Performance im Projekttheater gemacht hat!“

City Sadhus Flyer
Ich glaube, Andro fuhr damals einen alten Mercedes. Er kam mit Saranam, dessen und seiner eigenen Partnerin, einer Assistentin und einem jungen Brasilianer gegen Mittag in Dresden an. Wir hatten nur den Nachmittag, um die Vorstellung vorzubereiten. Andro hatte einiges an Requisiten mitgebracht, die Saranam und der brasilianische, junge Mann in einer Metallwanne ins Theater hereintrugen. Andro erklärte zunächst dem Brasilianer seine Rolle: „Du sitzt hier auf der untersten Ebene im Publikum. Hier hast Du ein paar Knochen.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Andro hatte tatsächlich einen Haufen Hühnerknochen mitgebracht. „Die legst Du links neben dich. Alle 10 – 15 Minuten hebst Du einen der Knochen auf und hältst ihn hoch. Dazu sagst du laut vernehmbar „Kal“. Dann legst Du ihn rechts von dir ab und sprichst „Pa“. Immer wieder: „Kal-Pa“, „Kal-Pa“, „Kal-Pa“ *. Das projekttheater fasste ca. 100 Zuschauer. Die vorderste Reihe hatte etwa zwei Meter Abstand zum Bühnengeschehen. Die Stühle hatten wir wegschaffen lassen. Die Zuschauer mussten auf dem Boden sitzen.

„Andro, wir brauchen eine Uhr. Vier Stunden sind sehr lang, besonders wenn man ausser einem vagen, rituellen Konzept keinerlei zeitlichen Anhaltspunkt hat.“ Andro schaute sich um. Er holte einen alten Wecker aus der Wanne und sagte: „Dort vorn ist eine Nische in der Wand. Das ist der Altar. Wenn man wissen will, wie spät es ist und wie lange es noch dauert, geht man zum Altar und betet, also man legt die Hände im OM-Gruss zusammen. Dann kann man auf den Wecker schauen. Diesen sieht man vom Zuschauerraum aus nicht.“ Ich war einverstanden. Doch was wir vergassen, war, dass es in dieser Nische stockfinster war. Wir sahen später nur vage die phosphoreszierenden Zeiger des alten Weckers und befanden uns von Anfang der Performance an im zeitlichen Blindflug.

Andro hatte einiges an skurrilen Attributen mitgebracht. Beispielsweise einen Standdildo. Das war ein Phallus, der auf einer quadratischen Plattform befestigt war, sodass man ihn auf den Boden stellen konnte. Er stellte ihn im hinteren Bereich der Bühne auf und gab der Assistentin, Anweisungen, was sie damit tun sollte. Sie überzog daraufhin den Schaft mit einem Kondom, rieb ihn mit Gleitmittel ein, zog sich aus und setzte sich in die tiefe Hocke, wobei de Dildo in ihrer Yoni verschwand. „Geht gut!“, sagte sie. Ich glaube das war das einzige, was ich sie an diesem Tag sagen hörte.

Als ich die Wanne begutachtete, fiel mir auf, dass diese halb mit Asche gefüllt war. „Wofür ist die Asche, Andro?“, fragte ich. „Da rühren wir Wasser ein und beschmieren uns damit. Das machen die Sadhus in Indien auch so. Dort steht ein Eimer. Vielleicht kann jemand schon mal Wasser holen.“ Als ich mit dem Wasser wiederkam, war Andro im Gespräch mit dem Techniker. Im linken, hinteren Bereich wurde eine Leinwand installiert und Andro übergab dem Lichtmeister eine Videokassette. Ehrlich gesagt weiss ich bis zum heutigen Tag nicht, was auf dem Video zu sehen war. Da ich selbst mit auf der Bühne stand, hatte ich keine Gelegenheit, es mir anzusehen. Es wurden noch Platztücher arrangiert und dann sprachen wir den Ablauf durch, den ich vorbereitet hatte.

Über den Beginn der Vorstellung hatten Andro und ich eine Diskussion. Er wollte, dass seine Gefährtin eine Yonikugel in sich aufnimmt, an der ein langer Strick befestigt war. Dann sollte sie mit diesem Seil quasi auf die Bühne gezogen werden. Ich fand eigentlich, dass dies eine übertriebene Aktion war und dass das Publikum nicht gleich zu Anfang so geschockt werden müsste. Andro argumentierte, dass dadurch die Zuschauer gleich den richtigen Eindruck von der Vorstellung hätten und somit das, was kommen würde, als relativ normal betrachten würden. Andro überzeugte mich letztendlich nicht mit seinem Argument sondern durch die Tatsache, dass mir nichts besseres einfiel.

Die Performance nahm also ihren Lauf. Zwei Paare sollten sich vereinigen. Die Assistentin und ich agierten als Helfer, während der brasilanische Mann sein „Kal-Pa“ rezitierte. Wir begannen damit, dass wir aus dem Wasser und der Asche eine Art Schlamm zubereiteten, mit dem wir uns gegenseitig einschmierten. Von dem Augenblick an wirkte alles sehr irreal. Sechs nackte Menschen, die von Kopf bis Fuss mit einem Coating aus Asche überzogen waren, fremdländischen Singsang von sich gaben und auf eine Art und Weise den sexuellen Akt vollzogen, der beim Publikum eine Mischung aus tiefer Vertrautheit und totaler Fremdheit hervorrief … das alles war wohl das ungewöhnlichste Happening, das die Dresdner Theaterlandschaft je gesehen hatte.

City Sadhus 2
Es gab ein paar kleine Höhepunkte, die mir auf der Bühne das Blut in den Adern stocken liessen. Z.B. als Andro die Urinflasche ergriff und sie völlig schamlos im Stehen befüllte … nur um sie dann keine fünf Sekunden später auf ex auszutrinken. … oder: Mein Entsetzen, als ich feststellte, dass der Wecker in der Dunkelheit so gut wie unsichtbar war, und sich dadurch eine sehr, sehr lange Zeit in eine Ewigkeit verwandelte. … und dann: Die plötzlichen und unkontrollierbaren Schüttelanfälle verschiedener Darsteller, die von extremen, energetischen Prozessen zeugten, und beim Publikum wohl ganz grosse Fragezeichen entstehen liessen.

Am Ende nahmen wir keinen Applaus entgegen. Wir sassen nach Ablauf des Rituals still aber nicht unbeweglich im Kreis, während die Bühne innerhalb etwa zehn Minuten auf black gedimmt wurde und der Zuschauerraum gleichzeitig Licht von vorne bekam. Im projekttheater gab es damals noch keine Dusche. Wir gingen daher im wahrsten Sinne in Sack und Asche nach hause zu meiner damaligen Gemeinschaft. Das Bad war mehrere Stunden hoch frequentiert.

Als ich am nächsten Tag ins Theater kam, begegnete mir eine Kuratorin der Stiftung Hauptstadt Kulturfonds. Sie stürzte auf mich zu und war voll des Lobs über diese archaische (!), künstlerische Darbietung. Damit hatte ich nicht gerechnet. Alle Dresdner Tageszeitungen schrieben darüber, sogar die BILD und die Morgenpost! Aber das Interessanteste war, dass keine erwähnte, dass auf der Bühne sexuelle Aktivitäten stattgefunden hatten. Trotz der eindeutigen Fotos wurde dies einfach unterschlagen!

Johannes Ganesh

Teil 1 von 3

* Kalpa bezeichnet einen sehr langen Zeitabschnitt, der die längste Zeiteinheit in der zyklischen Kosmologie von Hinduismus und Buddhismus darstellt. (Wikipedia)