Ich sass im „Berliner Zimmer“* einer Altbauwohnung im Stadtteil Schöneberg. Es war extrem heiss … so heiss, wie man es mitten im Winter im Osten Deutschlands nicht vermuten würde. Zumindest ich hätte mir das bis vor kurzem nicht vorstellen können. Entsprechend der Temperatur war ich nackt. Ich sass auf einem kleinen Podest, neben meinem Gastherrn, der – ebenso unbekleidet wie ich – eine Eröffnungsansprache vor 25 – 30 ebenfalls entblößten Menschen hielt. Er stellte sein „Team“ vor, also die Leute, die mit ihm in den nächsten Tagen die Teilnehmergruppe durch den Jahreswechsel führen sollten. Ich war der „Neue“ und ging daher davon aus, dass ich als letzter bei der Vorstellung dran sein würde.

Ich studierte die Gruppe vor mir und wurde etwas nervös. Ich hatte schon einige Erfahrung im Leiten von Ensembles, Tanzensembles genauer gesagt. Doch trotz des Hangs zum Hedonismus und erotischer Freizügigkeit hatten meine Tänzer und Tänzerinnen noch nie nackt vor mir gesessen und meinen Ausführungen gelauscht.

Ich war abgeschweift in meinen Gedanken, als ich meinen Freund links neben mir folgende Worte sprechen hörte: „Ja, es ist noch gar nicht lange her, da rief mich plötzlich und unerwartet ein junger Mann an, der mich um meine Expertise bzgl. einer Übersetzung eines Urtextes bat …“ – Aha, dachte ich, solche Dinge passieren ihm wohl öfter, denn meine Bekanntschaft mit ihm hatte auch so begonnen – „… Die Energie manifestiert sich auf vielfältige Arten und Weisen. Doch ich habe es bisher noch nie erlebt, dass sie über das Telefon zu mir kam. Wenn so etwas ungewöhnliches passiert, muss man als Tantriker sofort reagieren. Das tat ich auch. Und deshalb stelle ich Euch jetzt Johannes Ganesh vor, der hier zu meiner rechten sitzt.“

Ich war perplex. Andro hatte die ganze Zeit von mir gesprochen.

Ich hatte noch nie an einem Tantraworkshop teilgenommen. Das Tantra, das ich bisher kennengelernt hatte, spielte sich sozusagen in der „freien Wildbahn“ ab und fand nicht organisiert in Kursen statt. Dennoch war für Andro nach einigen langen Gesprächen klar: Er wollte mich für den nächsten Workshop in seinem Leitungsteam haben. Ich hatte ihm das tantrische Prinzip des Kamakalas mit- und nahegebracht, so wie ich es von meiner Freundin Louise, einer amerikanischen Indologin, gelernt hatte. Das Kamakala ist eine altindische Methode, die den Ursprung jeglicher Lust, den Kern der Begierde, entschlüsselt und mit der Visualisierung nach oben und unten gerichteter Dreiecke arbeitet. Eine trockene Kost – so schien es mir zuerst – doch nichts blieb trocken, wenn Andro sich erst einmal damit beschäftigte.

Wir nannten es „Das tantrische Dorf“ und meinten damit ein Kamakalaritual, dem die Kraft zugeschrieben wurde, schon beim ersten Erleben der Zeremonie Kundalini erwecken zu können. Es war die Neuauflage einer sehr alten, gegenseitigen Verehrung von Shakti und Shiva. Wir führten diese mit mehr als zehn Paaren durch, wobei Paare, die miteinander im Alltag liiert waren, getrennt wurden – genau wie es die Tradition verlangte. Andro schien mit all diesen absurd anmutenden Besonderheiten keine Probleme zu haben. Das machte ihn für mich sehr sympatisch, ja sogar attraktiv, und ich war mir bewusst, dass ich auf dem besten Weg war, diesen Mann tief in mein Herz zu schliessen.

Ich hatte noch ein paar Zutaten für diesen Workshop mitgebracht, z.B. das tantrische Beschimpfungsritual, bei dem alle, die teilnahmen, allen anderen so richtig alle schlechten Eindrücke und Projektionen an den Kopf warfen. Es ist ein Ritual, in dem die alten Tantriker die negativen Gefühle rausliessen, bis eben nichts mehr übrig, nichts mehr ungesagt war, um danach – unbelastet und frei – das Vereinigungsritual zu zelebrieren. Einigen unserer Teilnehmer fiel dies sehr schwer. Doch es sollte sich herausstellen, dass dies bei weitem nicht der exotischste aller Prozesse dieses tantrischen Jahreswechsels sein sollte.

Wir gingen zu Silvester auf den Friedhof. Es war ein kalter aber sonniger Tag. Bei der Friedhofshalle setzte sich Andro auf einen Wagen, mit dem Särge zu den Gräbern transportiert wurden. Er war damals in seinen 50ern und pflegte noch immer seinen schütter werdenden Haarzopf. Diesen hatte er zu diesem Anlass geöffnet, sodass die wenigen Strähnen auf seine Schultern hinabfielen. Ausserdem hatte er sein Gebiss entfernt. Andro, der durchaus eitel auf seine Umgebung wirken konnte, hatte keinerlei Probleme, sich von seiner unattraktivsten Seite zu zeigen. Alles war Schöpfung, alles war Energie … und in dieser Wahrheit gab es nichts zu verbergen.

Aghori Sadhus
Als sich alle um ihn versammelt hatten, begann er aus dem tibetischen Totenbuch zu lesen. Wenn ich mich recht erinnere, war es eine Stelle, an der man nach dem Ableben den Dhyani Buddhas entgegentrat. Keine leichte Kost, wenn auch sehr farbenfroh geschildert. Nachdem wir diesem Text, dessen tiefere Bedeutung ich erst viele Jahre später nach meiner Einweihung in das Kalachakra verstehen sollte, gehört hatten, gab uns unser Workshopleiter die Aufgabe, zu einem Grab zu gehen, das uns ansprach, um uns alsbald zu stimulieren. Andro hatte schon immer mit den Aghori Sadhus sympatisiert, die auf Verbrennungsstätten sexuelle Rituale zelebrierten. Wir alle hatten weite Wintermäntel an und niemand, der mittelmässig zahlreichen Friedhofsbesucher hätte ahnen können, was sich unter der Lode abspielte. Dies war bei allen so … ausser bei einem…

Ich war mit meinem Freund Ulrich bei diesem Kurs … er als Teilnehmer. Ulrich und ich kannten uns schon viele Jahre und lebten damals zusammen in einer tantrischen Gemeinschaft. Ich hatte ihn auf dem Friedhof aus den Augen verloren, als eine der Assistentinnen zu mir kam und mich ganz panisch mit sich zog: „Das musst Du Dir anschauen! Was sollen wir denn jetzt machen?! So etwas habe ich noch nie erlebt!“ Sie brachte mich hektisch zu einem Friedhofsgang. Ich blieb an seinem Anfang stehen. Dort mitten zwischen den Gräbern sass Ulrich splitterfasernackt auf seinem Mantel, den er auf einer Grabplatte ausgebreitet hatte, seine Schuhe und Kleider fein säuberlich gefaltet neben dem Grab angeordnet … und … vollzog ein tantrisches Einzelritual. Mit Mantra. Mit Errektion. Mit Masturbation. Mit allem drum und dran.

Ich verschaffte mir kurz einen Überblick und sagte der verstörten Assistentin: „Du bleibst jetzt hier stehen. Ich gehe auf die andere Seite des Gangs. Dann sorgen wir dafür, dass sich niemand nähert.“ Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, wie um alles in der Welt wir es hätten verhindern sollen, dass jemand näher kommt, der beispielsweise gerade dort ein Grab besuchen wollte. Egal. Wir standen also auf unseren Posten und warteten, bis Ulrich sein Ritual beendet hatte. Sein OM AHDI OM war weithin gut hörbar.

Ich begleitete dann Ulrich nach dieser Session auf dem Friedhof zurück zum Antinous Institut. Obwohl wir vereinbart hatten, während des Workshops nichts Privates miteinander auszutauschen, kam ich nicht umhin, ihn zu fragen, welcher Teufel ihn denn geritten hätte, dass er diese Aufgabe so detailliert und exhibitionistisch durchgeführt hatte. Seine Antwort klang dann auch sehr logisch: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Andro weniger als das gemeint haben könnte.“ Ich musste ihm recht geben. Und als wir Andro erzählten, was sich zugetragen hatte, erwiderte dieser lakonisch: „Ja, Ulrich war wohl die einzige Person, die den Geist der Übung tatsächlich verstanden hat.“

Johannes Ganesh

Teil 3 von 3

* Das Berliner Zimmer ist eine Besonderheit des Berliner Wohnungsbaus, das als grosser Gelenkraum mit nur einem einzigen Fenster entstand, indem das Vorderhaus mit dem Seitenflügel verbunden wurde.