Ich möchte hier nicht die Choreographie beschreiben sondern mich auf die Zusammenarbeit mit Andro und dem Antinous Institut beschränken.
Der Arbeitstitel dieser Produktion war „Mein grösster Feind ist Coca Cola“. Dargestellt werden sollten die Einflüsse, die Werbung und kapitalistische Industrie auf unsere Kultur und damit auf unsere Gesellschaft hatten. Was wir erforschten, nennt man heutzutage Soft Power oder kognitive Kriegsführung und gemeint ist damit u.a. die Manipulation grosser Bevölkerungsgruppen durch die Instrumentalisierung primärer Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme, Geborgenheit und Sex aber auch Status, Beziehungsstrukturen und Gemeinschaft sowie das Erzeugen von Angst, Polarisierung und Diffamierung. Man muss hierbei wissen, dass Andro ein typischer 68er war. Er war politisch und gesellschaftlich immer auf dem Laufenden, was der Stapel des Magazins „Der Spiegel“* auf der Toilette bezeugte. Oft unterhielten wir uns über gesellschaftspolitische Entwicklungen und wie man diesen als tantrische Randgruppe entgegentreten sollte. Wie die tantrische Tradition bewiesen hatte, gehörte zu dieser Lebensweise schon immer eine Haltung, die im Gegensatz zu vielen anderen spirituellen Strömungen das gesellschaftliche Tagesgeschehen nicht ausklammerte.
In diesem Zusammenhang war es mir auch sehr wichtig, dass meine Bühnenstücke nicht nur meine persönlichen Ansichten widerspiegelten sondern die Meinungen und Standpunkte aller Beteiligten mit einbezogen. Um dies zu erreichen organisierte ich Konzeptionsworkshops, in denen das zu bearbeitende Thema von allen Mitwirkenden beleuchtet und inhaltlich erarbeitet wurde. Dadurch entstand eine kollektive Sichtweise, welche dann mir – dem Choreographen – als inszenatorische Aufgabe diente. In diesem Fall hatte ich Andro gebeten, die Leitung des Konzeptionsworkshops zu übernehmen.
Freiberufliche Tänzer sind viel unterwegs. Sie leben meist dort, wo sie arbeiten, und das kann schon mal für ein paar Monate der Fall sein. Dementsprechend haben sie viel bei sich, was sie zu brauchen glauben. Als meine Darsteller in der Mansteinstrasse eintrafen hatten alle Ihre relativ grossen Koffer bei sich, in denen sie ihre Habseligkeiten für unterwegs zusammengepackt hatten. Andro liess alle zum Hintereingang der Etage hereinkommen und wartete dort gemeinsam mit seinem Assistenten Duma auf sie. Beide trugen nichts ausser einer sehr eng anliegende Lycra-Hose, die im Schritt einen Lappen hatte, mit dem man zuerst das Geschlecht hochlegte und dann einen Gürtel daraus band. Dadurch wirkten die Genitalien sehr prominent. Man hatte Schwierigkeiten nicht die ganze Zeit dorthin zu starren.
Andro liess alle nacheinander einzeln hereinkommen. Er verfolgte folgende Strategie: Jede Person musste jedes einzelne Teil, das sie bei sich trug – sei es jetzt Kleidungsstück, Snack für Zwischendurch oder Freizeitlektüre – stichhaltig begründen, und zwar so, dass die Relevanz für den Konzeptionsworkshop klar wurde. Hier muss ich noch hinzufügen, dass Duma so gut wie kein Deutsch sprach, nur lächelnd und schweigend neben Andro sass und die Ankömmlinge betrachtete. Das Resultat war, dass alle Darsteller nacheinander splitternackt, nur mit einer Zahnbürste in der Hand den Hauptraum betraten. Niemand hatte hiermit gerechnet. Daher wirkten auch alle etwas verstört.
Andro und ich hatten für den Konzeptionsworkshop verschiedene Prämissen festgelegt, um alle Teilnehmenden aus ihrer normalen Routine zu reissen. So halbierten wir den Wach-Schlaf-Rhythmus. Wir waren also acht Stunden mit den Workshopinhalten beschäftigt, wonach wir vier Stunden schliefen. In den drei Tagen des Workshops durchliefen wir diesen Zyklus also sechs Mal. Es gab mehrere Räume, die uns zur Verfügung standen. In einem Raum gab es ein Buffet, in einem anderen schliefen wir, es gab ein Bad mit Toilette … natürlich ohne Tür … und dann gab es den zentralen Raum, in dem auf Workshopmanier die Themen der Produktion erörtert und kreiert wurden.
Alle Räume waren zu allen Zeiten zugänglich. Es gab keine Pausen zum Essen, für Sex oder für WC. Jeder und jede konnte zu jedem Zeitpunkt Essen gehen bzw. Nähe und Sex suchen. Nur geschlafen wurde zur festgelegten Zeit, die es auch auszunutzen galt, da wir nur vier Stunden am Stück hatten. Der Schlafraum war stock nster, sodass man sich – einmal im Hochbett liegend – nicht mehr traute aufzustehen, bis Duma mit der Zimbel kam und uns weckte.
Saranam hatte sich etwas ganz besonderes einfallen lassen: In allen Räumen gab es Kameras, die alles aufzeichneten. Zusätzlich übertrugen diese live alles, was überall geschah in den Workshopraum, wo man dies auf Bildschirmen verfolgen konnte. Saranam gestand mir jedoch, dass die Kamera auf der Toilette, die er dekorativ in eine Topfpflanze drapiert hatte, fake war. „Ich hatte nicht mehr genug Kabel.“, erklärte er. Man muss bedenken, dass all dies vor Big Brother war. Wir hatten nichts abgekupfert, alles war auf unserem eigenen Mist gewachsen. Möglicherweise hätten wir damals mit diesem Setting berühmt werden können. Doch wir nutzen es nur als Mittel zum Zweck, um unsere Produktion zu erarbeiten.
Trotz einer grossen Offenheit unter den Darstellern war der Konzeptionsworkshop nicht leicht für sie. Es gab harte Worte – auch gegen mich. Es ossen Tränen und es gab Streit. Doch niemand wollte aussteigen. Andro war ein wunderbarer und vertrauenswürdiger Workshopleiter, wodurch es mir möglich war, meine Leitungsposition vollständig aufzugeben und mich in die Gruppe fallen zu lassen. Wir erarbeiteten die verschiedenen Szenen als bild- und symbolhafte Mandalas, wobei wir die Grundform – das Quadrat mit den vier Toren – beibehielten. Danach ordneten wir die Szenen, und ich hatte ein Skript für die Choreographie, nicht in Worten sondern als assoziatives und intuitives Storyboard. Es war eine wunderbare Zeit, voller Neugier und Kreativität, mit grenzenloser Imagination und tiefem Vertrauen in die Sinnhaftigkeit unserer künstlerischen Arbeit.
Heraus kam ein Theaterstück das letztendlich den Titel „Rauschlauscher – Cocakondenz“ trug. Der Raum, in dem es stattfand, war wie eine Mandala aufgebaut: In der Mitte gab es die ebenerdige, quadratische Hauptbühne von 10 x 10 m. Dort, wo die Tore der Mandala sind, waren vier Nebenbühnen in unterschiedlicher Höhe angeordnet. Auf den Ecken des mittleren Quadrats waren vier Tribünen, wo die Zuschauer sassen. Auf einer der Nebenbühnen sass ein Schriftsteller, der tatsächlich drei Texte verfasst hatte, auf die während der Vorstellung getanzt wurde. Ihm gegenüber sass eine gelb gekleidete Figur, die einen Tamagotchi darstellte. Die Tänzer mussten diesen während des Abends immer wieder füttern und umsorgen, doch er starb auf zwei Dritteln wegen Vernachlässigung. Auf der dritten Nebenbühne fand eine Massage statt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von den Tänzerinnen auf der zentralen Bühne gespiegelt wurde. Auf der vierten und höchsten Bühne fand ein Vereinigungsritual statt. Shiva und Shakti sassen in einem Plastikplantschbecken und von oben lief in einem ständigen, dünnen Strahl blaue Farbe auf sie herab. Deshalb trugen sie Badekappen und Schwimmbrillen. Das ganze Bühnenbild war aus 4.000 Coca-Cola-Kisten gebaut, die wir tatsächlich vom Coca-Cola-Konzern kostenfrei zur Verfügung gestellt bekamen. Wir mussten nur das Pfand bezahlen, das wir bei Rückgabe wieder zurückerstattet bekamen.
Es war eine schillernde Produktion, die in vielerlei Weise den Geist des Tantras atmete. Wir klagten in ihr die Verirrung unserer Kultur an, die ihre Seele in Konsum und Entertainment verlor, und zeigten gleichzeitig auf, dass es Wege gibt, die vielleicht keine Lösung darstellen aber zumindest den Status Quo wirksam unterwandern.
Teil 2 von 3
* Damals war „Der Spiegel“ noch ein kritisches Medium, das in keinem intellektuellen Haushalt
fehlte. ↩
Freunde,
bei der Lektüre musste ich an den Borobodur-Tempel auf Java denken und den benachbarten Prambanan. Die armen muslimischen Mädchen wurden von ihren Lehrern auf viel zu grossem Abstand gehalten, kicherten aber immer wieder unter ihren weissen Kopftüchern, weil sie vielleicht etwas aus dem Kamasutram erspäht hatten. Ja, das wäre, zusammen mit Ubud beinah meine zweite Heimat geworden, aber meine Frau wollte zurück nach Argentinien. Liebe, nach einem guten Steak geht eben auch