Liebe, Verliebtheit und Liebeskummer aus tantrischer Sicht im Fokus der Wissenschaft.
(überarbeitete Fassung vom 08.12.2019)
„Das Lebendige beansprucht nicht Macht, sondern Geltung im menschlichen Leben. Es ruht auf den drei Pfeilern der Liebe, der Arbeit und des Wissens…
Die ganze bisherige Kulturforschung behauptet, daß es gesellschaftliche Ordnung bei Triebfreiheit nicht geben kann. Dagegen behauptet und beweist die Sexualökonomie nicht nur, daß es das gibt und geben kann, sondern vielmehr, daß mit der sexualökonomischen Regulierung des Liebeslebens, welche restlose Sexualbejahung anstelle der Sexualverneinung zur ersten Voraussetzung hat, sich zum ersten Male einige der großen Fragen der Menschheit lösen lassen werden, die heute ihr Leben bedrücken […].“
Der Arzt und Sexualwissenschaftler Wilhelm Reich
Wir werden ins Leben geworfen, mehr oder weniger sanft. Wir werden erzogen, mehr oder weniger streng und immer wieder begleiten uns Schuld und Scham, diese Gefühle, welche unseren Geist vernebeln, welche unsere Handlungen beeinflussen, uns im Ausdruck unserer verspielten Lebendigkeit hemmen. Schuld und Scham sind keine primären, uns angeborenen Gefühle wie Lust, Schmerz, Freude oder Trauer, sondern werden durch kulturelle Einwirkungen und Prägungen in unserem Organismus erzeugt. Denn Schuld und sexuelle Scham sind an kulturell entstandene Begriffe wie Selbstwert, Leistung, oder Ehre gekoppelt und haben unserer angeborenen Natur ein seelisch sehr prägendes Element hinzufügt, welches unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen ungünstig beeinflusst. Unser globales Erdenleben wurde ein Ort voller Liebeskummer, die Basis der so genannten Zivilisation wurde seit ihrem Beginn während der so genannten neolithischen Revolution, als der Mensch sesshaft wurde und die ersten Städte und Staaten bildete, auf hierarchischen Herrschaftssystemen aufgebaut. Das geschah vor etwa 10 000 Jahren, vermuten die Archäologen. Frauen waren dabei meistens die Entmachteten und Entrechteten. Kein Wunder also, wenn eine Frau mit einem Mann, welchen sie gerade kennen gelernt hat, erst einmal Kaffe trinken will und nicht sofort an Sex denkt. Mit diesem Thema beschäftigt sich ausführlich der Wissenschaftsjournalist Daniel Berger in seinem Buch Die versteckte Lust der Frauen. Der Autor beschreibt, wie tief die patriarchalen, streng sexualmoralischen Prägungen noch heute die sexuellen Reaktionsweisen von Frauen bestimmen. Wenn eine Frau ihre Lust ausleben will, muss sie sich nach wie vor gegen hartnäckige Klischees behaupten: eine seelisch gesunde Frau würde Sex immer mit Liebe im Sinne vom klassischen Beziehungswunsch verknüpfen, das ist Teil unseres heutigen Selbstbildes. Frauen seien von Natur aus monogam veranlagt und das zahme, weniger «animalische» Geschlecht, dieses Bild werde nach wie vor oft in Kunst, Kultur und Politik vermittelt und an der öffentlichen, subtil moralischen Ächtung des Missachtens gesellschaftlich festgelegter Regeln des Liebeslebens sichtbar.
Doch dieses Bild der weiblichen Sexualität sei vollkommen falsch, entspräche nicht der genetischen Veranlagung von Frauen, meint der amerikanische Fachjournalist, der in Gesprächen mit Sexualwissenschaftlerinnen und Sexualwissenschaftlern herausfand, dass Frauen auf deutlich vielfältigere Weise erregbar sind als Männer. In wissenschaftlichen Experimenten zeigten die Probandinnen messbare körperliche Erregung beim Betrachten von erotischen – hetero- wie homosexuellen – Fotos und ebensolchen Pornofimsequenzen und waren auch bei der Vorstellung von Sex mit fremden Menschen sexuell erregt. Als sie später darüber befragt wurden, leugneten sie aber diese Symptome sexueller Lust, welche mithilfe von empfindlich reagierenden Messgeräten während des Schauens oder Imaginierens der erotischen Bilder gemessen worden waren und gaben an, nur da Erregung gespürt zu haben, wo sie „gesellschaftlich akzeptabel“ war: als heterosexuell veranlagte Frau beim Betrachten von Hetero-Pornos und beim fantasierten Sex mit Männern, die sie kannten.
„Das weibliche Verlangen – in seiner angeborenen Bandbreite und Stärke – ist eine unterschätzte und unterdrückte Kraft“, meint Bergner. „Und das selbst in unserer übersexualisierten und vermeintlich so freizügigen Zeit“
Ich möchte zu Bergers These noch einen Gedanken hinzufügen: Meines Erachtens haben auch Männer eine Stärke und Bandbreite des sexuellen Verlangens, welche unterschätzt wird, und diese ist teilweise, wie etwa das bisexuelle Element im Mann, noch mehr tabuisiert, als bei Frauen. In den Tantraseminaren, welche ich gebe, lässt sich dieser Umstand immer wieder gut beobachten. Heterosexuelle Männer finden es zu Beginn oft befremdlich, anderen Männern zärtlich zu begegnen, aber wenn das Eis erst einmal geschmolzen ist, wenn die Angst als schwul zu gelten in einer Atmosphäre der Akzeptanz schwindet, wagen sie erste gleichgeschlechtliche Berührungen. Ausserdem lässt sich gut beobachten, dass Männer, welche in unseren Trainings gelernt haben, ihre Ejakulation beliebig lange hinauszuzögern, die Bandbreite ihrer sexuellen Empfindungen erheblich steigern können, bis hin zu einem Erregungslevel, auf dem sie multiorgasmische Wellen erleben können. Meine Beobachtungen scheinen die These zu bestätigen, dass Männer und Frauen in ihrer sexuellen Konstitution viel ähnlicher beschaffen sind, als landläufig angenommen wird. Die heute oft im Alltag beobachtbaren Unterschiede entstanden meines Erachtens im Lauf der sexualverneinenden patriarchal geprägten kulturellen Evolution der bereits erwähnten letzten 10 000 Jahre.
Sexualität ist im menschlichen Organismus allgegenwärtig, das innere Kind, das kleine Mädchen, der kleine Junge in uns will spielen, noch unschuldig, noch unverdorben von „unheiligen“ Gedanken üner die Sexualität, will den Eros voller Lebendigkeit geniessen, will voller Lebensfreude – frei von Vorurteilen oder Ängsten – das Leben feiern. Doch die Historie unserer kulturellen Evolution entblättert sich im Licht der modernen Wissenschaft als eine Abfolge von geistig – seelischen Verirrungen, die immer wieder inhumane Gesellschaftssysteme produziert haben. In einer streng patriarchalen Gesellschaft wurden Frauen dominiert und zu sexuellen Handlungen genötigt oder sogar vergewaltigt, wie es sich auch bei unserem nächsten Verwandten, dem Schimpansen beobachten lässt. Im Falle von Ehebruch wurden Frauen sogar zu Tode gesteinigt, wenn sie dabei ertappt wurden. Bei den Bonoboaffen, welche mit uns – ebenfalls wie die Schimpansen – zu annähernd 99 Prozent genetisch verwand sind, verhält es sich anders. Nicht Männer dominieren die Affenfamilie, sodern die Weibchen sind das starke Geschlecht und sexuell immer bereit, sie lassen sich aber niemals hetzen oder unter Druck setzen. Die Bonobos leben ein sexuell freies, sehr aktives, bisexuell offenes promiskuitives Sexualleben und das beinahe aggressionsfrei. Jede aufkommende Aggression wird mit sexuellen Versöhnungsgesten besänftigt.
Bonobos vereinigen sich sieben mal mehr am Tag, als die Schimpansen und kennen keinen Trotz oder sexuelle Ungeduld, keine Gier und keine Ressentiments. Der Genuss eines Bonobolebens bringt es mit sich, dass keine Vorwurfshaltungen oder enttäuschten Gefühle in zehnjährigen psychoanalytischen Sitzungen bearbeitet werden müssen. Mit dem Menschen haben sie unter anderem – im Gegensatz zu anderen Primaten und auch den Schimpansen – gemeinsam, dass sie während der Kopulation die frontale Stellung bevorzugen und dabei einander immer wieder ins Gesicht blicken.
Ich nehme an, dass niemand unter den Leserinnen und Lesern ein Paar kennt, welches siebenmal mehr Sex am Tag erlebt, als ein anderes Paar. Bei uns Menschen verhält es sich eher so, wie es ein bekannter Witz wiedergibt: Was ist der Unterschied zwischen Weihnachten und Sex? Weihnachten ist öfter. Von solchen humoristischen Zuspitzungen einmal abgesehen: In gängigen Statistiken wird die durchschnittliche Häufigkeit des Liebesaktes eines modernen Homo Sapiens mit ein bis dreimal pro Woche angegeben. Spätestens seit der globalen Machtergreifung des Christentums werden Ehebetten vor allem für den Schlaf genutzt und Esszimmertische vor allem für Frühstücksrituale und für das Beisammensein beim Mittag- und Abendessen, und Schwimmbäder vor allem für sportliche Leistungen oder gediegenes Planschen. Würden wir den Bonobos aus moralischen Gründen die bedingungslos freie Wahl ihrer Sexualpartner abtrainieren, würde sich höchstwahrscheinlich die Häufigkeit ihrer sexuellen Begegnungen auf ein Minimum, welches der Fortpflanzung dient, reduzieren. Möglicherweise leben wir also schon seit Jahrtausenden gegen unsere eigene Natur, welche wir von einem Bonoboähnlichen Vorfahren aus der Gattung der Hominiden geerbt haben, von welchen wir genetisch abstammen. Das sagt jedenfalls der Primatologe Tobias Deschner vom Max Planck Institut für evolutionäre Biologie aus Leipzig.
Der Mensch sei in seiner Genstruktur promiskuitiv veranlagt, behaupten provokant die Sexualwissenschaftler und Psychologen Cacilda Jethà (die auch Ärztin ist), und Christopher Ryan in ihrem Buch Sex, die wahre Geschichte. Die beiden Forscher haben unzählige sexualwissenschaftliche Studien der letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte bis heute ausgewertet und kommen zu dem Schluss, dass wir gegen unsere Natur leben, indem wir strengen, durch verirrte kulturelle Entwicklungen entstandenen, Gesetzen der Monogamie folgen.
Vermutlich trennen wir deshalb Liebe vom Sex, sterben vor sexueller Langeweile in unseren Ehebetten, gehen voller Gewissensbisse und Abenteuerlust Fremd, lechzen gierig nach Reichtum und Ruhm, um unseren Liebeskummer im Konsum zu ertränken. Oder wir rächen uns in blinder Wut für das uns im Leben versagte Liebesglück. In der Familie als das selbsternannte in seiner Autorität unantastbare Oberhaupt oder in der Weltpolitik als der Herrscher von Gnaden Gottes oder als starker, hart durchgreifender Staatschef, der für Ordnung und Gehorsam in der Welt sorgt. Grausame Despoten waren immer zuerst kleine gekränkte, geschlagene und gedemütigte Kinder, denen körperliche Zärtlichkeit und Respekt vor der eigenen Menschenwürde zu grossen Teilen verwehrt wurden, und die nie Gelegenheit hatten, ihr multiorgasmisches Potential zu entfalten. Klingt zu verrückt? Der Sexualwissenschaftler Wilhelm Reich behauptet genau das in seinem Buch Massenpsychologie des Faschismus und hat meines Erachtens ernstzunehmende Anhaltspunkte für seine Aussagen. Wir leben also alle in einer Art sexuellen Entwicklungsländern, je nach Breitengrad oder Längengrad auf dem Globus unterschiedlich unterernährt, unterschiedlich unterentwickelt.
Doch weltweit sind immer mehr Menschen gerade dabei, die alten, strengen sexualmoralischen Regeln in Frage zu stellen und suchen nach neuen Modellen des Zusammenlebens und des Liebens.
Vieles wird ausprobiert und immer mehr setzt sich dabei die Idee durch, dass Lust und Herz immer zusammen gehören, selbst während einer flüchtigen erotischen oder sexuellen Begegnung im Urlaub, eines genossenen Abends im Sexclub und auch und gerade beim Liebesspiel mit dem Lebenspartner, mit dem man schon vierzig Jahre zusammen lebt. Es könnten auch mehrere Lebenspartner sein, denn die Liebe kennt keine Grenzen, wenn sie von allen Tabus und Ideologien entstaubt wird.
Wenn es Menschen gesamtgesellschaftlich und kulturell erlaubt wäre, ihre sexuellen Träume mit jedem zu erfüllen, der dazu bereit wäre und nach dem sie sich sehnten, wäre die Welt ein friedlicher und verspielter Ort, die Natur intakt und üppig in ihrer das Leben berauschenden Schönheit. Unsere Städte und unsere modernen Technologien wären naturnah und naturverträglich, die politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen nach humanistischen Prinzipien organisiert. Religion wäre Privatsache und frei von Scham und Schuld, frei von jeglicher Vorwurfshaltung, welche Menschen demütigt.
Doch das Paradies auf Erden ist vorerst noch ein Traum, da unsere Welt – ungeachtet der modernen technologischen Errungenschaften – heute und schon seit Jahrtausenden an dem von mir bereits erwähnten chronischem Liebeskummer leidet. Und so brauchen wir emotional wirksame Werkzeuge der eigenen Selbstentfaltung, der intellektuellen, emotionalen und körperlichen Selbstheilung. Unsere Liebes- und unsere Lustfähigkeit wachsen, wenn wir sie kultivieren, trainieren, von alten verstaubten Regeln befreien, ihr scham- und schuldbefreiten Raum geben, sich zu entfalten. Unsere emotionale Intelligenz und die Tiefe unserer Glücksgefühle wächst, wenn wenn wir die Möglichkeit nutzen, uns in geschützten Spielräumen diesem Thema zuwenden, zu zweit, zu dritt oder zu mehreren, voller Achtsamkeit, Respekt und Würde.
Tantrische Vereinigungsrituale und andere tantrische Zeremonien bieten neugierigen, spirituell oder psychologisch sich selbst oder einen Lebenssinn suchenden Menschen Gelegenheiten, sich in der Fülle ihres lustvollen, multiorgasmischen oder auch ekstatischen Gefühlserlebens kennen zu lernen.
Hohe Lustzustände erzeugen einen sehr intensiven hormonell-neuronalen Prozess im Körper, der uns glücklich macht, der uns sanft und friedlich stimmt, der uns gesund erhält, der uns kreativ, überzeugungs- und durchsetzungsstark macht. Sie erzeugen einen biochemischen Prozess, welcher auch im Gehirn neuronale Netzwerke umbaut, gewissermassen wird das Gehirn mit Begeisterung gedüngt, wie es der Gehirnforscher Gerald Hüther ausdrückt. Ein gesamtkörperlicher und auch zerebraler Prozess, der unsere kognitive und unsere emotionale Intelligenz schärft.
Ritualisierte Gesten und Worte helfen mir in einem tantrischen Vereinigungsritual dabei, mich „göttlich“ „königlich“, selbstbewusst, würdevoll und unschuldig zu fühlen. Je mehr ich dieses trainiere, umso mehr öffnet sich mein Herz, um so mehr wird mein Körper für Lustgefühle durchlässig, um so mehr entspanne ich mich in meinem liebenden Genuss hinein, mir meiner natürlichen Autorität ganz bewusst, befreit von jeglichem Unterwürfigkeitsgefühl, auf Augenhöhe mit Anderen. Solche tantrischen Übungen und Trainings sind wesentlich für unsere geistig, seelisch körperliche Gesundheit, denn wir spüren uns alle viel zu wenig, – beeinflusst durch unsere Kultur, welche den Eros und sinnliche Zugänge zu unseren Körpern nicht genug kultiviert – und erleben nur einen Schatten dessen, was möglich wäre. Und so verdrängen wir sogar, dass wir nicht wirklich ganz glücklich sind, dass wir unsere uns angeborene Lebendigkeit nicht voll ausleben. Weder Im Privaten, noch in Berufsleben. (Diesen Gedanken teile ich mit dem Biologen, Philosophen und preisgekrönten Publizisten Andreas Weber.) Wie der Mystiker Meister Eckhard schon sagte: „Gott ist in jedem von uns aber wir sind selten Zuhause.“ „Göttlich“ meint für Tantriker, daß die eigene Natur als Mensch wiederentdeckt wird und nun in Würde und voller Lebensfreude gelebt werden kann, zumindest für die Dauer eines tantrischen Vereinigungsrituals oder einer tantrischen heiligen Orgie, in der alle einander zutiefst lieben, aus Respekt dem Lebendigen gegenüber, welches sich seit seiner Geburt nach Liebe, nach körperlicher Nähe, nach der fraglosen Akzeptanz der eigenen Lust sehnt.
Und diese Erfahrungen werden mein Leben verändern, deswegen sprechen manche Menschen vom „life changing sex“, wenn sie liebevoll zelebrierte, intensive sexuelle Erlebnisse zu zweit oder zu mehreren beschreiben. Je mehr wir Schritt für Schritt Freundschaft mit unserem Körper schliessen, mit unseren erotischen und sexuellen Impulsen, mit unserer Sehnsucht nach liebenden Umarmungen, umso mehr ändert sich unsere Sichtweise auf das eigene Leben. Wünsche, die für uns früher sehr wichtig waren, verlieren möglicherweise an Bedeutung, weil wir erkennen, dass es sich bei deren gelegentlicher Erfüllung eher um Ersatzbefriedigungen gehandelt hat, als um essentielle Erfahrungen. Die subjektiv als besonders schön, als sehr angenehm erlebten Gefühle während sinnlicher, erotischer und sexueller Begegnungen lassen vieles andere in dessen Unwichtigkeit erkennbar werden.
„Als Ersatzbefriedigung wird in der Psychoanalyse eine Handlung mit Lustgewinn an einem Ersatzobjekt bezeichnet, wenn das eigentliche Ziel nicht erreichbar ist, durch Verbot oder Tabus. In der freudschen Terminologie ist eine Ersatzbefriedigung ein Abwehrmechanismus des Ichs. Nach diesem Erklärungsansatz lenken seelisch Gesunde meist unbewusste Wünsche so um, dass sie durch ein Ersatzobjekt Befriedigung finden. Im Grunde ist jedes Suchtverhalten die Folge einer dauerhaften Befriedigung eines Bedürfnisses durch einen Ersatz, das Suchtmittel, gleichgültig ob es sich um eine stoffliche Sucht (Alkoholsucht, Medikamentenabhängigkeit) oder eine nichtstoffliche Sucht (Internetsucht, Spielsucht) handelt.“ schreibt zu dieser Thematik der Österreichische Psychologe Werner Stangl in seinem Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.) Ich möchte mich an dieser Stelle mit dieser Thematik etwas genauer befassen:
„Das Leben ist ein Spiel“, sagen manche Menschen und wir halten solche Aussagen oft für leichtsinnig, stempeln sie als realitätsfern ab. „Wenn du denkst, das Leben sei ein Spiel, dann bist du ein hoffnungsloser Träumer“, oder „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen“, heissen dann die Floskeln, mit denen solche Gedankengänge abgewehrt werden. Je mehr wir als Kinder, welche sich spielerisch Fertigkeiten und Wissen aneignen, Geborgenheit und Freiheit im gleichen Masse erlebt haben, um so deutlicher sind wir dann als Erwachsene davon überzeugt, dass es sich wirklich so verhält, dass selbst schwierige Herausforderungen spielerisch gemeistert werden können. Wir fühlen uns dann zumeist auf der Sonnenseite des Lebens, dort, wo die verspielten Abenteuer stattfinden, selbst wenn wir keine Reichtümer angehäuft haben.
Ein mürrischer, vom Leben enttäuschter Mensch hingegen würde vielleicht eher sagen: „Das Leben ist ein Kreuz, ist Maloche, ist Kampf, Schuld und Gericht. Es geht am Ende immer nur um das Fressen oder das gefressen Werden.“
Wenn wir das Leben nicht als Spiel empfinden, versuchen wir unser Unglück darüber, dass das Leben so anstrengend ist, mit den eben beschriebenen Ersatzbefriedigungen zu betäuben. Wenn ich schon als Erwachsener nicht spielen darf, sondern malochen muss und in einer langweiligen Ehe die Probleme lösen muss, die ich alleine niemals hätte, dann will ich wenigstens im Erleben meiner Ersatzbefriedigungen die Fülle erfahren, die mich dann darüber hinwegtröstet, dass mein Leben eigentlich unglücklich ist.
Ich flüchte mich in Konsum von Gütern oder kulturellen Erzeugnissen, verliere mich in Intellektualismen jeder Couleur.
Ich brauche dann dringend einen Überfluss an Frustschokolade, am besten täglich, ich brauche meinen Porsche oder andere Statussymbole, um mir und anderen zu zeigen, welche Abenteuer mein Leben mir zu bieten hat oder wie Stolz ich auf meine Leistungen sein kann. Oder aber ich habe es nötig, meine intellektuelle Überlegenheit zu zeigen, denn der leidenschaftlich erlebte Eros, der von Mutter Natur dazu ersonnen wurde, mich glücklich zu machen und mein Selbstwertgefühl zu nähren, hat in meinem Leben eher wenig Platz.
Deswegen brauche ich ausserdem wenigstens ab und an einen heimlichen aber in vieler Hinsicht kostspieligen „Flirt“, um am schönsten aller Spiele teilnehmen zu dürfen. Wenn ich eine Frau bin, verwende ich eventuell viel kreative Energie darauf, mich schön zu schminken, zu kleiden, meine Haare zurecht zu machen, einen angenehmen duft zu verströmen, um wenigstens ein wenig von meiner atemberaubend schönen, lustvoll befreiten Göttlichkeit zu spüren, selbst wenn ich in meinem realen Leben meine Attraktivität eher dazu nutze, den richtigen Partner anzuziehen, mit dem ich dann anschliessend in der von mir schon erwähnten Ehe vor Langeweile strebe. So tragikomisch spielt sich oft unser Leben ab.
„Ich will alles, ich will alles und noch viel mehr“, sang einst die Schlagersängerin Gitte.
Schlager sind nicht gerade die Musikrichtung, die ich gerne höre. Aber der von Gitte gesungene Satz löst in mir eine Bilderflut der süssesten Art aus, verbindet sich mit meinem kindlichen Sehnen nach überfliessender Lebendigkeit, nach Genuss, nach Abenteuer, drückt in meiner gefühlten Interpretation der voller Leidenschaft gesungenen Botschaft unsere tiefe Sehnsucht nach Fülle aus, nach Glücklichsein, nach einem Leben voller Vertrauen, voller Spiel und Spass, nach dem Duft von Vanilleeis oder Flieder, nach üppigen Geburtstagsgeschenken, nach dem ersehnten Paradies auf Erden.
„An der Frauenbrust treffen sich Hunger und Liebe“, schrieb einst der Erfinder der Psychoanalyse Sigmund Freud. Auch Kinder empfinden schon sinnlich, erotisch und sexuell, wollen darein vertrauen, dass ihre lustvolle Lebendigkeit nicht verletzt wird, obwohl sie den Erwachsenen an körperlicher Kraft unterlegen sind. Doch über viele Generationen hinweg wurden Kinder genau dafür bestraft, gedemütigt, wurden am Ausleben ihrer natürlichen erotischen Impulse gehindert oder aber waren sie der sexuellen Gier unbefriedigter Erwachsener ausgesetzt. Kein Wunder also, dass Sexualität selbst heute für viele Erwachsene oft kein Spiel mehr bedeutet, sondern Leistungsdruck, Stress und Zweifel.
Doch das Kind in uns bleibt fühlbar, selbst wenn wir schon greise geworden sind und noch gewillt sind in uns hinein zu spüren. „Das innere Kind“ ist ein Begriff aus der modernen Psychologie und beschreibt alle unterdrückten Träume und Emotionen, welche erwachsene Menschen in ihrem Alltagsbewusstsein oft nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind. Doch die Sehnsucht bleibt, wenn auch ins Schattenreich unseres Unbewussten verdrängt.
In unseren Tantra- und Tantramassageseminaren erleben Menschen immer wieder, wie das Herz Schritt für Schritt „entschleiert“ wird und beginnt, sich frei und glücklich zu fühlen, voller Vertrauen und Liebe, welche bei ausreichendem Training immer grösser werden, so gross, dass sie uns alle unsere enttäuschten Verliebtheiten vergessen und vergeben lassen, sind wir doch nun reich beschenkt mit einem honigsüssen Liebesgefühl, mit Urvertrauen und Selbtvertrauen, welche alle anderen Arten der Verliebtheit in den Schatten stellen. Und das, obwohl es die Grenzen der traditionell definierten Zweisamkeit sprengt. Oder gerade deswegen.
Ich bin in Liebe, sagen Tantriker und verwirklichen damit den christlichen Leitspruch „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“. Und dieses “Ich bin in Liebe“ wird auch erotisch und voll liebender Poesie empfunden, schliesst auch ekstatische Vereinigungsgefühle ausdrücklich mit ein und ist nicht nur auf eine bestimmte Person gerichtet, vielmehr ist es ein Lebensgefühl und eine Lebenshaltung, welche die Sehnsucht nach Fürsorglichkeit und die Lust auf sexuelle Abenteuer nicht von einander trennt. Es ist meines Erachtens viel kreativer, wenn wir anerkennen, dass wir mehrere Menschen oder gar alle lieben können, auch unter Einbeziehung des Eros. Jeder Mensch erweckt andere erotische und sexuelle Aspekte in uns, wenn wir ihm die Gelegenheit geben, sich von uns berühren zu lassen oder uns zu berühren. Liebe ist in erster Linie eine Entscheidung, sie fällt nicht einfach vom Himmel, wie noch manch Eine, manch Einer womöglich denken mag. Auch das haben Wissenschaftler längst experimentell bewiesen, darauf werde ich später eingehen.
Leider ist uns dieser Umstand nicht immer ganz bewusst. Unser Unbewusstes, das voller verworrener Überzeugungsrahmen, traumatischer Erinnerungen und der daraus entstandenen Ängste angefüllt ist, steuert unsere Entscheidungen subtil und perfide, ohne dass wir es merken. Deshalb verlieben wir uns oft in die Menschen, die unsere Liebe nicht nehmen können oder wollen und übersehen solche Menschen, die zu uns wunderbar passen würden, übersehen diese aufgrund unserer einengenden Prägungen durch patriarchale und lustfeindliche, in Liebesangelegenheiten geistig unflexible Kulturen. Das Drama des modernen Homo Sapiens ist der Selbstzweifel, die ständig uns latent begleitende Angst, nicht zu genügen, nicht liebenswert zu sein, nicht willkommen zu sein. Deswegen kommt für uns das verlassen worden Sein beinahe einem Todesurteil gleich. Wir werden, wenn ein Mensch, den wir lieben, uns verlässt, scheinbar wieder in unseren negativen Annahmen über uns selbst bestätigt.
Aus diesem Grund üben Tantriker ständig die Kunst der Selbsterkenntnis, um sich ihrer Selbsttäuschung bewußter zu werden. Wahre Liebe gedeiht nur in einem Klima absoluter Klarheit. Erst wenn wir uns erlauben, unseren Schattenseiten zu begegnen, sie erkennen und annehmen, kann Wandlung und Heilung geschehen. Unsere „Schatten“ und Fehler sind nicht selbstverschuldet, sie sind das Ergebnis einer lieblosen und unklaren Erziehung. Wenn wir das erkennen, wenn wir uns unsere Fehler und Unbewußtheiten vergeben und uns dadurch mehr lieben lernen, werden die vielen Augenblicke des Lebens befreit vom ewig uns bedrohenden Damoklesschwert der Selbstvorwürfe und wir haben eher die Möglichkeit, mit Menschen kreative Verbindungen und Beziehungen einzugehen, in welchen die Erfüllung von essentiellen Bedürfnissen aller Beziehungspartner gutgeheissen und gefördert wird.
Meine nächste These, welche durch persönliche, Jahrzehnte lange tantrische Erfahrungen gestützt wird, soll aufzeigen, wie wir uns von unserem chronischen Liebeskummer heilen könnten. „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern“, schrieb schon der griechische Philosoph Aristoteles, in einer Zeit, als die Griechen noch erotische Freundschaften Pflegten. Heutige Freundschaften wären spannender, wenn der Eros nicht per definitionem in einer „normalen“ Freundschaft ausgeschlossen wäre, nach dem Motto: „du bist nur meine Freundin, nicht meine Geliebte, du bist nur ein Freund für mich, mit Eros hat meine Zuneigung zu dir nichts zu tun.“ Erotisch und sexuell kreative Freundschaften zu Menschen, in deren Nähe wir uns besonders inspiriert fühlen, könnten sehr dazu beitragen, unser ekstatisches Potential zu entfalten. Es könnten Kreise liebender Menschen entstehen, die einander einfühlsam begleiten und inspirieren. Und so würden sich Gesellschaften von Innen her ändern, würden reifen im Hinblick auf die soziale Intelligenz ihrer Mitglieder.
„Was könnt es so einfach sein, isses aber nicht“ so besangen einst die Fantastischen Vier, eine deutsche Rap-Band schmunzelnd unseren Hang zum kompliziert Sein. Denn wir sehen alles eher durch die Brille des Misstrauens, wurden wir doch oft im Leben enttäuscht. Das fing schon bei Mama und Papa an, die häufig mit uns Kindern überfordert waren, ja mit ihrem ganzen Leben überfordert waren und uns ihre Liebe nicht in dem Ausmass schenken konnten, nicht in der Konsequenz vorgelebt haben, wie wir es gebraucht hätten. Und deswegen übersehen wir oft, dass Lebe vielleicht einfacher gelingen könnte, wenn wir besser ihren Entstehungsmechanismus begreifen würden.
In den Neunzehnhundertachtzigern durchgeführte wissenschaftliches Experimente, welche die Entstehung zwischenmenschlicher Nähe erforscht haben, brachten im Hinblick auf diese Thematik sehr nachdenkenswerte und provokante Ergebnisse mit sich:
Eine Studie der Yale University erforschte die Hypothese des Psychologen Dr. Arthur Aron, der die Forschungen leitete. Dieser postulierte: Es könnte möglich sein, Menschen in einem wissenschaftlichen Experiment dazu zu bringen, sich ineinander zu verlieben. Er hatte hierzu 36 Fragen entwickelt, die sich von konventionellem Smalltalk absetzen und dadurch ein schnelles Kennenlernen möglich macht.
Die beiden Teilnehmer lasen abwechselnd eine Frage vor, beantworteten sie selbst und liessen dann den Experiment-Partner auf dieselbe Frage antworten. Anschliessend sahen sich die beiden Probanden vier Minuten lang in die Augen. Das Ergebnis: Bei mehr als 90 % der Versuchsteilnehmer entstanden nach dem ungefähr einstündigen Prozess Nähegefühle, erste Anzeichen von Verliebtheit.
Von relativ harmlosen Fragen wie etwa: „Nenne drei Dinge, von denen du glaubst, dass sie Dein Gegenüber und du gemeinsam haben.“ , oder „Wofür bist du in deinem Leben am meisten dankbar?“ steigerte sich die Vertraulichkeit voraussetzende Brisanz der Fragen zunehmend. Hier einige wenige Beispiele:
„Wenn du irgendetwas daran ändern könntest, wie du erzogen wurdest, was wäre das?“
„Erzähle deinem Gegenüber Deine Lebensgeschichte in vier Minuten, aber mit möglichst vielen Details.“
„Wie eng und herzlich sind die Beziehungen in Deiner Familie? Denkst du, dass deine Kindheit glücklicher war, als die anderer Menschen?“
„Wenn du mit deinem Gegenüber eine enge Freundschaft schließen würdest, was müsste er oder sie dann unbedingt von Dir wissen?“
„Sage deinem Gegenüber, was du an ihm oder ihr magst; sei dabei ehrlich und sage Dinge, die du normalerweise einer Person, die du gerade erst kennengelernt hast, nicht sagen würdest.“
„Teile mit deinem Gegenüber einen peinlichen Moment in deinem Leben.“
„Berichte von einem persönlichen Problem und frage dein Gegenüber nach Rat, wie er oder sie die Sache handhaben würde. Bitte Dein Gegenüber außerdem, zu beurteilen, wie du selbst vermutlich über das ausgewählte Problem denkst.“
Meines Erachtens ist es auch für Nichtwissenschaftler leicht nachvollziehbar, dass sich für diejenigen, welche sich während eines derartigen Experiments solch intime Fragen gegenseitig beantworten ein gefühlter Raum der Intimität und des Vertrauens öffnet. Die anschliessenden vier Minuten, die beide Probanden einander in die Augen schauen, vertiefen die Nähegefühle noch mehr, dem Sprichwort folgend „Die Augen sind die Fenster der Seele“.
Das Experiment zeigt: Liebe ist das Endergebnis einer Entscheidung, sich auf seelische und körperliche Nähe einzulassen und vertrauenerweckende Handlungen, Worte und Blicke zuzulassen. Dies entspricht den Erfahrungen der Tantrikerinnen und Tantriker: Starke Liebes- und Lustimpulse schlummern in uns, verdrängt durch patriarchale gesellschaftliche Regeln und können durch regelmässige Selbsterkenntnis- und Selbstentdeckungsprozesse wieder ans Tageslicht unserer wachen Bewusstheit gebracht werden.
Wir haben uns ein Narrativ, eine Erzählung über uns selbst geschaffen, über unsere kulturellen Ursprünge und deren biologische Ursachen, doch dieses Narrativ entspricht nicht unbedingt der Wirklichkeit. Die Sexualforscher Jethà und Ryan nennen dieses Narrativ das Fred Feuerstein Syndrom, benannt nach der berühmten Zeichentrickfilmserie, in der ein Bild der Steinzeit gezeigt wird, das nicht einmal ansatzweise der Wirklichkeit entspringt: Der Mann geht Jagen und die Frau kocht zuhause, zieht seine Kinder gross, während er sein Sperma in der ganzen Welt verstreut, um möglichst viele genetisch gesunde Nachkommen zu zeugen. Archäologinnen und andere Wissenschaftler haben nachweisen können, dass in der Steinzeit auch Frauen gejagt haben. Es gab sexuell freie Kulturen (welche zum Teil heute noch existieren), in denen Frauen die Anzahl ihrer Sexualpartner selbst bestimmten. Männer waren nicht immer das überlegene starke Geschlecht und Frauen waren nicht immer Besitz der Väter und Ehemänner. Erst viel später, in biblischen Zeiten war das der Fall. Aus diesen biblischen Zeiten stammen aber unsere Mythen, mit denen unzählige Generationen vor uns aufwuchsen und sie sind die Basis für unser Narrativ über unsere angebliche genetische Veranlagung, dessen Richtigkeit heute von Seiten der Wissenschaft immer mehr angezweifelt wird.
Die Sexualwissenschaftler Jethà und Ryan gehen davon aus, dass der Reproduktionstrakt der Frau in ihren fruchtbaren Tagen das genetisch geeignetste Spermium aussucht, nachdem sich zuvor die Frau mit zehn verschiedenen fruchtbaren Männern vereinigt hat. Solch ein Bild, gestützt durch neueste biologische Forschungen, entspricht nicht unbedingt unserer modernen Vorstellung von romantischer Liebe. Doch es stimmt, der Organismus der Frau produziert sogar chemische Substanzen, mit denen Spermien angelockt werden und andere Chemikalien, mit denen nicht erwünschte Spermien in ihrem gerichteten Bewegungsdrang, der sie zur Eizelle führen soll, gehemmt werden.
Dürfte eine Frau heute in irgend einem Land der Welt zehn Männer heiraten, wenn sie allen diesen Männern gegenüber romantische Liebe empfindet? Oder wie wäre es, wenn wir den in fortschrittlichen Demokratien in letzter Zeit immer wieder benutzten Begriff „Ehe für Alle“ anwenden würden? Dürfen irgendwo auf der Welt zehn Männer und zehn Frauen einander alle gleichzeitig heiraten?
Der Grossteil der Menschen glaubt selbst heute noch – ungeachtet dessen, was Wissenschaftler in den letzten zwei Jahrzehnten von ihren ursprünglichen Annahmen revidiert haben – dass der Impuls, strenge monogame Regeln zu befolgen uns quasi angeboren sei. Und gottesfürchtige Menschen welche immer noch grosse Landstriche auf dem Globus bevölkern, behaupten nach wie vor, dass uns die Einhaltung solcher Regeln von irgendeinem Gott befohlen worden sei, unter der Androhung schwerer Strafen bei Zuwiderhandlung.
In manchen Ländern wird eine solche Zuwiderhandlung selbst heute noch mit dem Tod – etwa durch Steinigung – bestraft. Auch hier wird ein Widerspruch in unserem modernen Denken deutlich. Wenn wir in unserer biologischen Veranlagung monogam geprägt wären, bräuchte es doch keine Strafen, um die angeblich in uns genetisch verankerte strenge Sexualmoral durchzusetzen. Viele Menschen versuchen weltweit, die je nach Kultur mehr oder weniger rigide durchgesetzte Sexualmoral so gut es geht einzuhalten und doch ist Liebeskummer sehr weit verbreitet. Die Sexualwissenschaftlerin Jethà und ihr Kollege Ryan fragen sich: Versucht der Mensch ständig einem illusionären Ideal nachzurennen, welches uns vorgaukelt, dass wir uns falsch fühlen sollten, wenn wir sexuelle Anziehung und Verliebtheit für mehr als nur einen Menschen empfinden?
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, was wir gerade aus der weiter oben zitierten Studie des Psychologen Aron über das menschliche Nähe-Verhalten erfahren haben: Liebe ist immer das Ergebnis der Entscheidung, in einen Vertrauensprozess einzuwilligen. An dieser Stelle lässt sich noch weiterführend denken: Ein Vertrauensprozess kann durchaus zwischen mehr als nur zwei Menschen gelingen, wenn alle beteiligten in diesen Prozess einwilligen.
Das beweist unter anderem meine Jahrzehnte lange Erfahrung als Tantralehrer.
In unseren Seminaren bestätigt sich dieses wissenschaftliche Studienergebnis, denn es lässt sich immer wieder beobachten: Innerhalb weniger Tage wird ein Erfahrungsraum voller Liebe und voll sinnlicher Verspieltheit möglich, am Ende liebt Jeder Jeden, unterschiedlich stark vielleicht, aber ausreichend, um ein Klima der Geborgenheit aufrecht zu erhalten. Im Verlauf des Prozesses werden immer mehr Glücks- und Verbundenheitshormone in den Organismen der einzelnen Teilnehmer ausgeschüttet, ausgelöst durch einfühlsam zusammengestellte psychologisch und körpertherapeutisch fundierte Selbsterfahrungsprozesse. Sich diese Herzoffenheit und sexuelle Freiheit im täglichen Leben zu erlauben, mag dann eventuell um einiges schwieriger sein … doch scheinen wir genetisch eher promiskuitiver veranlagt, als wir bisher geglaubt haben. Die Thematik wird vermutlich noch mehrere Generationen nach uns beschäftigen, bis wir Menschen in der Lage sind, Liebes- und Lebensbeziehungen, sexuelle Abenteuer und Familiengeschichten vollkommen ideologiefrei zu leben … mit Bewusstheit, Achtsamkeit und Lebensfreude, ohne Scham und Schuld und frei von jeglichem Liebeskummer.
Doch wir können heute schon damit beginnen, jeden Schritt der Befreiung gemeinsam mit Gleichgesinnten zu würdigen und zu feiern. Es ist eine unterstützende Geste, anderen Menschen liebevoll Mut zu machen, ihre bisherigen Vorstellungen von der Liebe und ihrem Gelingen dahingehend zu überprüfen, ob sie eine glücklich machende Wirkung haben. Ihnen Mut zu machen, an ihre persönlichen Lebensträume zu glauben, sich wert genug zu fühlen, diese zu verwirklichen. Gerade und auch im erotischen Kontext.
Denn auch jede sexuelle Begegnung mit uns selber oder mit anderen hält eine neue Lektion für uns bereit. Die Kunst der Selbsterkenntnis zu üben, ist im Tantra ein wesentlicher Schlüssel. Welche Lektion hält das gerade Erlebte für mich bereit?
„Welche Lektion hält die Lust heute für mich bereit, wie geht es meinem Herzen, meiner Liebe, was sagt der Anteil in mir, der sich Autonomie wünscht und der, der sich nach Nähe sehnt? Was sagt der Anteil in mir, der sich nach Schutz und Geborgenheit sehnt und der, der sich nach endlos überfließender Fülle sehnt?“
Schritt für Schritt erfahren wir uns tiefer, entdecken Zugänge zu den Potentialen unserer Selbstliebe, unserer Lust und Liebe. Wir lernen es, unsere Haut und unseren gesamten Körper immer deutlicher zu spüren, unsere ersten sanften Lustimpulse im Körper genauer wahrzunehmen, wir lernen es, unserem Herzgefühl immer aufmerksamer zu lauschen, und unser orgasmisches Potential immer mehr zuzulassen. Das ist nicht so schwer, wie es vielleicht für manche von uns klingen mag und schon gar nicht unmöglich, denn wir sind schon Lustbegabte und Liebende, so sind wir genetisch designt worden. Die Kunst des Liebens entsteht vor allem durch das Weglassen eines Jahrtausendealten Ballasts, im Vergeben der erfahrenen Kränkungen, der erlebten Zurückweisungen, der erlittenen Erniedrigungen, die allesamt unsere Herzen schwer und ängstlich machen, im Aufdecken und Loslassen einengender, uns herabwürdigender Überzeugungen und Glaubenssätze. Wir sind nicht nur blinde, herzlose Passagiere einer uns oft irritierenden Lebensreise, sondern sind und waren schon immer auch Liebende, die ihre Verhinderungsmechanismen, ihre inneren Verweigerer, ihre Ängste, ihre Heucheleien erkennen und ablegen können. Alle Schönheit und kluge Organisation unseres Erdenlebens fängt bei jedem Einzelnen von uns an. Je klarer, wacher und liebevoller wir einander begegnen, um so kreativer, fröhlicher und friedlicher gestaltet sich unser Zusammenleben.
Der griechische Philosoph Epikur hat es mit dem später vom römischen Dichter Horaz ins Lateinische übersetzten Satz carpe diem (pflücke den Tag) auf den Punkt gebracht: Organisiere dein Leben so, dass jeder deiner Tage im Zusammensein mit Anderen voller Lebensfreude erlebt wird und jedes Leid, so gut es geht, vermieden wird. Und das Feuer unserer sexuellen Lustgefühle, unserer sexuellen Energie, unseres schwelgenden Herzens, all das ist Dünger, ist Medizin für alle neuronal- hormonellen Heilungsprozesse in unseren Körpern und unserer Psyche.
Zu guter letzt möchte ich die Gedanken dieses Blogbeitrags zusammenfassen: Es lohnt sich, sich immer wieder und immer bewusster in seinen Alltagsgedanken, Alltagsgefühlen, Alltagsimpulsen und Alltagsreaktionen zu hinterfragen. Es lohnt sich, in Betracht zu ziehen, dass unsere intellektuellen, emotionalen und orgasmischen Potentiale viel grösser sind, als wir bisher je erahnen konnten. Es lohnt sich, in Betracht zu ziehen, dass das schrittweise Zulassen unserer lebendigen Fülle positive Auswirkungen auf unser gesamtes Leben und auf unsere Umwelt, auf unser Zusammensein und Zusammenwirken mit andern Menschen haben kann. Liebe und Verliebtheit werden dann als Ganzes empfunden … Herz und Lust sind vereint. Liebeskummer löst sich im grenzenlosen gegenseitigen Vertrauen auf, denn das Lebendige strebt nach Verbundenheit und nicht nach Kampf. Oder, um es mit den Worten der Biologin Lynn Margulis auszudrücken: „Das Leben eroberte die Welt nicht durch Kampf, sondern durch Vernetzung.“
Bist du bereit diese Überlegungen in deinem Leben zuzulassen?
Bist du bereit für den Beginn einer wunderbaren Freundschaft mit dir selbst, mit deinen Mitmenschen, mit der Erde und mit allem Lebendigen?
ich danke dir. mahalo. etwas „langfädig“ deine Ausführungen, doch sehr gut.
“ was könnt es doch so einfach sein, isses aber nicht“. ach unser kompliziertes SEIN.
mit aloha. bin zur Zeit auf Hawaii. MaRia
Sehr spannender und interessanter Beitrag. Ich werde mich auf jeden Fall ab nun an mehr mit Tantra beschäftigen. Dieser Beitrag hat mein Interesse geweckt. 😀