Diesen Text schreibe ich auch als Geschäftsführer unserer Diamond Lotus Tantra GmbH, die ab 2021 unsere Workshops veranstalten wird. Die Entscheidung, ausgerechnet in diesen turbulenten Zeiten damit zu starten, ist mir nicht leicht gefallen. Doch wir haben in einem ausgiebigen Prozess mit der ganzen Gemeinschaft diese rechtliche Konstruktion so gestaltet, dass sie die gelebte Wirklichkeit gut abbildet. Nächstes Jahr ist es nun so weit.

Dabei sind die Widerstände groß. Offiziell gelten wir mit unseren Tantramassagen und Workshops als „nicht systemrelevant“, wie auch alle Kulturschaffenden. Schlimmer noch: Unsere tantrische Arbeit ist genau das Gegenteil von dem, was seit März als „vorbildliches Verhalten“ propagiert wird. Wir trainieren seit nunmehr einem Dreivierteljahr weltweit, andere Menschen als potentiell gefährlich für uns und uns selbst als potentiell gefährlich für andere zu betrachten – je näher und intimer, um so gefährlicher. Was das bedeutet, da bin ich ganz bei Charles Eisenstein:

Bevor wir das Abstandhalten zu einer neuen Norm machen, nach der sich die Gesellschaft orientiert, lasst uns bedenken, was für eine Entscheidung wir hier treffen und warum.

Wir als tantrisch inspirierte Gemeinschaft haben bereits eine andere Entscheidung getroffen, nämlich uns so oft körperlich nahe zu sein wie es geht. Das betrachten wir als einen Kulturimpuls, der über unsere Gemeinschaft hinausreicht. Deshalb hoffen wir, dass das Abstandhalten nur eine zeitweise Erscheinung sein wird.

Und deshalb sage ich ganz klar: Tantra ist systemrelevant.
Körperliche Nähe, Intimität und Zärtlichkeit ist systemrelevant.
Selbsterkenntnis ist systemrelevant.
Sexuelle Lust, Liebe und Geilheit kultivieren ist systemrelevant.
Körperliche Säfte vermischen ist systemrelevant.
Und ja, Aerosole austauschen ist systemrelevant.

Im Tantra geht es darum, sich voreinander körperlich und auch im übertragenen Sinne nackt zu machen. Sich nicht voreinander zu verschließen, sondern sich im Gegenteil füreinander zu öffnen. Und erst in der Vereinigung finden wir Frieden. Nicht isoliert voneinander, sondern aufs Innigste verbunden. Wilhelm Reich hat das schön in Worte gefasst:

Wahrheit ist voller, unmittelbarer Kontakt zwischen dem Leben, das wahrnimmt, und dem Leben, das wahrgenommen wird.

Andro war sehr radikal in dem, was er tat. Das ist auch ein Vermächtnis für uns – eines, das ich gerne weitertragen will. Beim Roten Tantra geht es ans Eingemachte und das ist gut so. Die Welt braucht das, die Welt braucht unsere Arbeit.

Deshalb sehe ich auch keinen Sinn darin, dass wir auf Online-Angebote umschwenken. Denn Rotes Tantra lässt sich nicht ernsthaft per Videokonferenz vermitteln. Das braucht Eure und unsere körperliche Anwesenheit, dazu müssen wir uns berühren und intim miteinander werden. Sonst ist es allerhöchstens Rosa Tantra.

Es ist viel die Rede von einer „neuen Normalität“. Ja, ich wünsche mir auch eine neue Normalität – eine Welt, in der es normal ist, sich überall in der Öffentlichkeit wild oder zärtlich zu küssen. Und zwar nicht nur als Paare, sondern auch zu mehreren. Ich wünsche mir eine neue Normalität, in der sich in der Öffentlichkeit zu vereinigen nicht mehr strafbewehrt ist. Ich wünsche mir, dass Sterben und Tod in unserer Kultur genauso gewürdigt werden wie das Geboren werden. Ich wünsche mir, dass man bei Facebook im Beziehungsstatus beliebig viele Beziehungspartner:innen eintragen kann. Ich wünsche mir, dass die Wirtschaft dem Leben dient und nicht umgekehrt. Und ich wünsche mir eine neue Normalität, in der Sexarbeit nicht mehr stigmatisiert, sondern wirklich eine Arbeit wie jede andere Arbeit auch ist.

Wirtschaftlich ist unser Institut und damit die Antinous Gemeinschaft einigermaßen durch dieses verrückte Jahr 2020 gekommen, dank staatlicher Hilfen und privater Rücklagen – und weil einige von Euch ihre Anzahlungen für ausgefallene Workshops haben stehen lassen. Danke dafür!
Ob uns das im kommenden Jahr auch gelingen wird, steht in den Sternen. Drückt uns dafür die Daumen!

Wegen dieser ungewissen Aussichten schließe ich meinen Beitrag mit dem Lied Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten von Ton Steine Scherben.